Isabelles Traum - Shortstory

Diese kleine Geschichte ist für eine Ausschreibung entstanden. Da sie nicht genommen wurde, könnt ihr sie nun hier lesen.



Isabelles Traum

Die Wiese, auf der sie lief, besaß ein saftiges Grün und die feinen Gräser kitzelten ihre blanken Füße. Hier und da sprossen Gänseblümchen, die Isabelle pflückte und zu einem Strauß zusammenband, der genau in ihre kleine Hand passte. Die Sonne schien und die Strahlen wärmten ihre Haut.
Während sie die große Wiese überquerte, wusste sie nicht, wohin sie zuerst blicken sollte. Vögel zogen am Himmel über ihren Kopf hinweg und kleine Wolken unterbrachen das Blau. Isabelle setzte sich und betrachtete sie. In ihrer Fantasie erkannte sie in den Wolken die unterschiedlichsten Gebilde. Sie fand es schön, an diesem herrlichen Ort zu sein, wusste jedoch nicht, wie sie dorthin gekommen war. Isabelle trug einen Schlafanzug, doch sie verschwendete keinen Gedanken daran, weshalb dies so war. Für sie spielte es keine Rolle. Nur kurz überlegte sie, warum sie ganz alleine auf dieser Wiese war. Isabelle war erst sechs Jahre alt und fragte sich, wo ihre Eltern geblieben waren. Aber so schnell der Gedanke gekommen war, verschwand er auch wieder, denn ein Kaninchen hoppelte einige Meter vor ihr vorbei und gewann ihre gesamte Aufmerksamkeit. Isabelle sprang auf und lief dem braunen Tier hinterher. Als sie es eingeholt hatte, blieb das Tier stehen und ließ sich von ihr streicheln. Das weiche Fell fühlte sich wundervoll unter ihren Fingern an. Sie lächelte. Etwas, das sie nur selten tat und erneut wusste sie nicht, weshalb dem so war.
Sie hockte vor dem Kaninchen und strich über das Fell. Die angenehm warme Luft roch nach den unterschiedlichsten Dingen. Blumenduft erkannte sie darin und kurz darauf stieg ihr ein bekannter, süßer Geruch in die Nase. Isabelle sah sich um und entdeckte ein Stück entfernt einen Popcorn-Automaten. Neugierig lief sie näher, doch sie sah niemanden. Es war keiner da, der das Gerät bediente. Das Fach war gut gefüllt und daneben standen Stapel leerer Pappbecher in unterschiedlichen Größen. Isabelle überlegte, ob sie sich einfach so etwas von dem Popcorn nehmen könnte.
„Hallo? Ist jemand hier?“, rief sie laut. Dann wartete sie einen Moment, sah sich um und als niemand kam, fasste sie einen Entschluss. Sie entschied, sich einen der kleinen Becher zu füllen und als Bezahlung den Strauß mit den Gänseblümchen zurückzulassen.
Mit dem Becher in der Hand lief sie weiter und aß die süßen Stückchen langsam und mit Genuss. Sie wusste nicht, wann sie zuletzt etwas so Leckeres gegessen hatte. Als der Becher leer war, bekam sie Durst. Aber außer der Wiese, einigen Sträuchern und den Gänseblümchen sah sie nichts. Auch nicht den Popcorn-Automaten. War sie so weit gelaufen, dass sie ihn nicht mehr sehen konnte? Sie drehte sich im Kreis und rätselte, in welche Richtung sie nun gehen sollte. Etwas verwundert stellte sie fest, dass sie überhaupt nicht müde war. Normalerweise konnte sie nicht sehr weit laufen. Wenn sie es doch tat, erschöpfte es sie sehr schnell. Mit kindlicher Leichtigkeit nahm sie diesen Umstand erfreut hin und lief weiter. Hüpfend setzte sie ihren Weg fort. Ihre langen Haare schwangen hin und her und sie kicherte, als diese sie kitzelten. Vor ihr tauchten große Bäume auf und ein Lied kam ihr in den Sinn. An den Text konnte sie sich nicht genau erinnern, aber das machte nichts. Sie erfand einfach einen eigenen und sang ihn zu der Melodie.
Kurz darauf hörte sie ein leises Rauschen. Sie wurde ganz still, lauschte und näherte sich dem Geräusch, das bei den Bäumen seinen Ursprung zu haben schien. Nach ein paar Schritten sah sie einen kleinen Bach, der sich zwischen den Stämmen seinen Weg suchte. Durstig, wie sie war, überwand sie die letzten Meter laufend. Das Wasser floss klar und schnell, gluckerte und bildete lustig anzusehende Strudel. Isabelle kniete sich hin und tauchte die Hand hinein. Das Wasser war gar nicht so kalt, wie sie es erwartet hatte. Mit beiden Händen formte sie eine Schale und schöpfte etwas heraus. Ohne Angst trank sie und schöpfte erneut. Eigentlich mochte sie Wasser nicht gerne, aber dieses schmeckte ihr gut. Nachdem ihr Durst gelöscht war, fischte sie einen Stein aus dem Bachlauf. Ein paar Sonnenstrahlen fielen durch das Blätterdach der Bäume und Isabelle betrachtete ihr Fundstück im Licht. Ihr kleiner Schatz zeigte unterschiedliche Farben, je nachdem, wie sie ihn drehte.
„Möchtest du ihn mitnehmen? Ich schenke ihn dir“, erklang plötzlich eine Frauenstimme.
Erschrocken machte Isabelle einen Satz rückwärts und sah eine Frau auf der anderen Seite des Baches stehen. Sie trug ein langes weißes Kleid und Isabelle sah sie mit großen Augen an. Ihre Haare reichten fast bis an ihre Beine und waren beinahe so hell wie das Kleid.
„Du siehst aus wie ein Engel“, flüsterte sie scheu.
Die Frau lächelte. „Ich bin kein Engel. Ich bin eine Nymphe und ich wohne hier.“
„Was ist eine Nymphe?“
„Glaubst du mir, wenn ich dir sage, eine Nymphe ist so ähnlich wie eine gute Fee?“
Isabelle staunte und nickte heftig. Eine richtige Fee hatte sie noch nie gesehen!
„Wenn du diesen kleinen Schatz haben möchtest, den du in meinem Bach gefunden hast, darfst du ihn gerne mitnehmen“, bot sie erneut an.
„Danke. Der Stein ist wirklich hübsch.“
„Dann halte ihn gut fest. Du hast von meiner heilenden Quelle getrunken. Aber mein Wasser macht müde und es wäre doch schade, wenn du deinen Schatz im Schlaf verlierst.“
„Aber ich bin gar nicht müde“, wehrte Isabelle ab. Doch kaum hatte sie die Worte zu Ende gesprochen, fielen ihr schon die Augen zu. Kurz bevor sie wirklich einschlief, schloss sie ihre Hand zur Faust und hielt den Stein umklammert.

Isabelle wachte auf und sah statt des Blätterdaches der Bäume eine weiße Decke über sich. Enttäuscht stellte sie fest, dass sie nur geträumt hatte. Die Wiese, das Kaninchen, das leckere Popcorn und die gute Fee am Bach waren nicht real gewesen. Sie war dort, wo sie schon seit Monaten war. In einem Bett, auf der Kinderkrebsstation des Krankenhauses. Niedergeschlagen schloss sie die Augen. Auf Isabelle hatte alles in dem Traum echt gewirkt. Die wunderschöne Frau, die sagte, sie sei eine gute Fee, hatte ihr den hübschen Stein geschenkt …
Ruckartig setzte sie sich auf, wodurch sie ein leichter Schwindel ergriff. Isabelle wartete einen Moment, dann schlug sie die Bettdecke auf und suchte das Bett ab. Sie war fest davon überzeugt, dass der Stein da sein müsste, weil sie den Schlafanzug anhatte, mit dem sie über die Wiese gelaufen war. Aber sie fand den schönen Schatz nicht. Müde und traurig ließ sie sich zurück auf das Kissen sinken. Dabei verrutschte das Kopftuch - im Traum hatten ihre langen Haare sie gekitzelt. In der Wirklichkeit waren sie durch die Chemotherapie verschwunden. Isabelle kannte dieses Wort und wusste, was es bedeutete - wie so viele andere Begriffe auch. Seit sie krank geworden war, hatte ihr die Ärztin alles erklärt. Um ihre Leukämie zu heilen, bekam sie Knochenmark von einem anderen Menschen. Aber ob es sie heilen würde, wusste noch niemand zu sagen. Sie mussten noch darauf warten, wie ihr Körper darauf reagierte. Isabelle fand das gar nicht so schlimm. Wenn sie sterben müsste, könnte sie bei Oma und Opa im Himmel sein. Sollte sie gesund werden, wollte sie später einmal eine Ärztin sein und Kindern helfen, die so krank waren wie sie. Sie wusste sehr genau, dass nur sechzig von einhundert Kindern diese Krankheit besiegten. Sie wäre gerne gesund um in die Schule zu gehen, auf dem Spielplatz zu toben und all die anderen Sachen zu machen, die Kinder in ihrem Alter taten. Trotzdem beschlich sie nicht die Angst, dass sie es nicht schaffen könnte.

Eine Woche später kam die Ärztin in ihr Zimmer, in dem Isabelle mit ihren Eltern schon auf das aktuelle Ergebnis wartete. Katharina, wie die Kinder der Station sie nennen durften, strahlte und hielt den Ausdruck der Laboruntersuchungen hoch.
„Junge Dame, ich glaube, du musst fleißig lernen, wenn du wirklich Ärztin werden möchtest.“
„Werde ich gesund?“, fragte Isabelle und sah von Katharina zu ihren Eltern, die sehr glücklich aussahen.
„Ja, das wirst du. Deine Ergebnisse sind hervorragend, was schon an ein Wunder grenzt. Ich hatte noch nie einen kleinen Patienten, der sich so schnell von der Transplantation erholt hat wie du, Isabelle.“
Isabelle lachte und drückte die Hand von ihrer Mama, der Tränen über die Wangen liefen.
„Aber Mama! Nicht weinen, das ist doch nicht traurig“, rügte sie und klang wie eine Erwachsene.
„Ich weiß, Kleines.“
„Wir sind so glücklich, Engelchen“, sagte ihr Vater und drückte sie vorsichtig an sich.
„Ich glaube, das Wasser der Fee, die keine ist, hat mir geholfen“, murmelte Isabelle und blickte in drei fragende Gesichter.
Sie lächelte nur und glaubte fest daran, dass ihr Traum doch keiner gewesen war. Was sie erlebt hatte, blieb ihr Geheimnis. Ebenso die Herkunft des kleinen Steines, der wieder aufgetaucht war - im Bezug des Kopfkissens. Als ihr viele Jahre später die Approbation erteilt wurde, trug sie den glitzernden Stein eingefasst in einen Anhänger an ihrer Halskette. Isabelle hat nie wieder von dieser Wiese und der Frau am Bach geträumt, dabei hätte sie sich gerne bedankt.

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